Künstlerhof Alt-Lietzow 12
Alt-Lietzow 12, 10587 Berlin
www.lietzow12.de
Weißbierbrauerei, Likörfabrik und Künstlerherberge
1888 ließ der Kaufmann und Pferdefutter-Händler Rudolf Braun
eine Weißbierbrauerei in Charlottenburg erbauen. Das schmale
Grundstück erstreckte sich von der Lützower Straße 10
(heute: Alt- Lietzow 12) bis zur Berliner Straße (Otto-Suhr-Allee). An der einen Seite grenzten das Rathaus Charlottenburg und die Polizeidirektion an, an der anderen Seite Hofbäckermeister Hempel. Der Bauherr ließ das Brauereigebäude im historisierenden Stil der Gründerzeit mit Rundbogenfenstern in einer kunstvoll gestalteter Backstein-fassade errichten.
Braun, Mitglied im Verein Berliner Weißbierbrauereien, profitierte von dem hohen Weißbierkonsum der Berliner. Um 1900 existierten rund 50 Weißbierbrauereien in Berlin – so viele wie nie zuvor und auch danach nicht wieder. 1890 ließ er die Lagerräume im Seitenflügel zu einem Gärkeller, einem Raum zum Flaschenspülen und einer Zweiraum-Wohnung umbauen. Hinter dem Hofkeller lagen die Ställe für die Pferde. 1893 wurde ein Dampfkessel und um 1905 ein Lastenaufzug eingebaut. Im Erdgeschoss befanden sich im Jahr 1900 Sud- und Kesselhaus, Büros sowie eine Schwankhalle für den An- und Abtransport der Bierfässer. Im ersten Stock lagen Malz- und Schrotboden, Getreide-, Geräte- und Vorratsräume, im zweiten Stock Räume zur Bierherstellung sowie ein Getreidepot. Im Dachgeschoss gab es einen Bodenraum für Wasserreservoires, einen Malzboden-Raum und eine Mühle.
Während des Ersten Weltkriegs litten die Brauereien unter der
Lebensmittelknappheit. Auch Rudolf Braun musste 1916 seine
Weißbierproduktion drosseln. Er plante, in den oberen Stock-werken eine Wäscherei einzurichten und ließ dafür die Räume im Seiten- und Quergebäude umbauen. Die Weißbierproduktion endete an diesem
Standort um 1920, offenbar mit dem Tod von Rudolf Braun.
1924 befand sich die Nährmittelfabrik Adam in den Räumen der
ehemaligen Brauerei, im Jahr darauf die Spedition Ernst Klews.
Der bedeutende Schriftsteller und politische Aktivist Erich Mühsam, 1934 im KZ Oranienburg ermordet, lebte laut Berliner Adressbuch 1925 und 1926 an dieser Adresse. In den 1930er-Jahren betrieb der Ingenieur Friedrich Stier im Gebäude ein Trickfilm-Atelier. Während des Zweiten Weltkriegs zerstörten Bomben und ein Feuer große Teile des Vorderhauses. In den Folgejahren richteten sich notdürftig wechselnde Firmen ein, darunter eine Polsterwerkstatt, ein Speiseeishersteller und eine Firma mit Ersatzteilen für Fleischereimaschinen.
1950 errichtete der Kaufmann Karl-Heinz Schmidt eine Bärenlikör Fabrik im Seitenflügel der ehemaligen Brauerei. Ein guter Zeitpunkt, da der Preis für den Spirituosen-Rohstoff Sprit stark gesenkt worden war, um den Markt wiederzubeleben. Bärenlikör wurde bald ein bekannter Markenartikel. Der Werbespruch „Bärenliköre schaffen Bärenstimmung“ stand bis in die 1990er-Jahre an der Fabrikfassade. Zwischen 1955 und 1957 verdoppelte die Likörfabrik ihren Umsatz; 45 Beschäftigte arbeiteten in zwei Schichten in der Produktion. 1965 wurde der Betrieb ausgebaut, die Likörfabrik zog nach Tempelhof um. Die neu gegründete Fabrik „Havelland Spirituosen“ mit angeschlossenem Großhandel übernahm die Produktionsräume in Alt-Lietzow. Außerdem befand sich die Wäscherei „Waschwerk“ im Gebäude.
In den späten 1960er- und 1970er-Jahren war das Haus Wohnort
und Treffpunkt Filmschaffender um die Deutsche Film- und Fernsehakademie. Führende Akteure des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes nutzten eine Wohnung im Haus. Später zog der bekannte Filmemacher Harun Farocki dort ein.
Seit Anfang der 1980er-Jahre arbeiteten Künstler:innen, Musik-instrumentenbauer, Musiker:innen, Kunsthandwerker:innen und Autor:innen im Haus. Die bildende Künstlerin Brigitte Arndt nutzt seit 1987 ein Atelier in der einstigen Brauerei. Seit vielen Jahren organisiert sie zahl-reiche Ausstellungen, Lesungen, Konzerte und Kulturfeste im Künstlerhof, um diesen Ort über den Bezirk hinaus bekannt zu machen. 2017 hat Arndt zusammen mit ihrem Partner Frank Schroedter nach langjährigen Bemühungen das Gebäude in Erbpacht erworben und konnte es so als Atelierhaus erhalten.
Recherche und Text: Karolin Steinke